Die wunderschöne Altstadt im Kern Tallinns breitet ihre Arme aus. Andauernder Platzregen macht die unzähligen verwinkelten Gassen noch etwas enger und schluckt das Tageslicht. Das nasse alte Kopfsteinpflaster glänzt speckig und erschwert das Laufen. Estlands Hauptstadt ist ein mysteriöser Ort, der sich irgendwo zwischen dem hohen Norden und dem tiefen Osten an die Enden der Ostsee schmiegt.
Alte Stadtmauern, Wachtürme und der Domberg sind Zeitzeugen aus einer Ära, in der Eroberer aus den Nachbarländern hier regierten. Ich will die Stadt abseits der alten Gemäuer ihrer Mitte entdecken und herausfinden, wohin es ihre Bewohner zieht.
Am Hafen treffe ich auf einen großen grauen Betonklotz von Bauwerk. Es ist die Linnahall, ehemals eine Mehrzweckhalle, mittlerweile ein heruntergekommener und trister Ort. Sogar die maroden Treppenstufen zerfallen Stück für Stück. Trotzdem eröffnet sich von hier ein hervorragender Ausblick auf die Stadt. Das ist auch der Grund, weshalb sich an lauen Abenden viele Einheimische hier treffen, um den Sonnenuntergang und die Seeluft zu genießen.
Von seiner besten Seite zeigt sich auch das Meer, welches sich den Weg vorbei an Schweden und finnischen Inseln gebahnt hat. Und noch etwas kann ich neben der bunten neuen Fassade der Küstenhäuser erkennen: Ein altes Gefängnis.
Wo einst Insassen gefoltert und gelyncht wurden, finden mittlerweile Raveparties für Tallinns Elektroszene statt.
Dem Kultuurikilomeeter (Kulturkilometer) folgend, wird zuerst eine alte Fabrik sowie das Kulturzentrum passiert. Dann führt mich die Straßenbahnstrecke parallel zur Põhja puiestee zu Tallinns Hauptbahnhof Balti jaam. Nach einem kurzen Fußmarsch erreiche ich ein alternatives Viertel. Hier stehen ausgediente Fabrikgebäude und verfallene Lagerhallen. Auf den ersten Blick kein schöner Ort, auf den zweiten Blick ein sehr interessantes Gebiet. Nachtschwärmer sammeln sich hier, um in einer besonderen Atmosphäre ihre Sorgen wegzufeiern. Inzwischen sind einige alte Bauten renoviert und Cafés, Clubs und Galerien eingezogen – die Kreativität ist hier mit den Händen fühlbar.
Tallinn bleibt auch nach meinem Besuch geheimnisvoll. Eine Stadt, die ihre alten Gebäude im Kampf vor Zerstörung bewahrte, indem sie ihren Todfeinden schnell Tür und Tor öffnete. Eine Stadt mit Charme, die zugleich bedacht und fortschrittlich ist. Eine Stadt mit erfinderischen Bewohnern, die Freiluftkinos auf Parkhäusern aufbauen, sobald es das Wetter zulässt. Die nächtliche Sternfahrten organisieren, weil es zu wenig Radwege gibt. Die so spontan sind, wie das wechselhafte Küstenwetter.
Viele alte Tore Tallinns bleiben ungeöffnet und warten darauf, dass ich zurückkehre, um deren verborgene Geheimnisse zu entdecken.
Vielen Dank an Evely und Kristiina vom Estonian Tourist Board für die gute Organisation und Kooperation!
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